Übergepäck

Ein Reisebuch von Rutu Modan, Jan Feindt, Shelly Duvilanski, Yirmi Pinkus, Anke Feuchtenberger, Mira Friedmann und Itzik Rennert

Von Maja Baker

Es gibt ein Spiel, das auf Hebräisch »Ja, nein, schwarz, weiß« heißt. Da werden den Mitspielern Fragen gestellt, die sie beantworten müssen, ohne eines dieser vier Worte zu verwenden.

Sie geben sich alle erdenkliche Mühe, Synonyme und Umschreibungen zu finden und die Fallen zu umgehen, die sie zum Scheitern bringen sollen. An dieses dumme Spiel musste ich bei der Lektüre von Tel Aviv Berlin denken.

Das Spiel, das die acht an diesem Band mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler spielen, könnte man auch nennen »Wie man über Tel Aviv und Berlin redet, ohne das bewusste Wort auszusprechen«. Oder »Wie man Berliner und Tel Aviver zusammenbringt, ohne sich mit der gemeinsamen Vergangenheit auseinanderzusetzen«.

Eine der wenigen Vorgaben, die den Teilnehmern gesetzt waren, war ein Reisebuch zu schaffen mit dem Blick nach vorne, in die Zukunft; ein Buch, das zwei angesagte, säkulare, zeitgenössische Städte präsentieren sollte, und keinen historischen Führer, der zu einem Mahnmal für den Zweiten Weltkrieg geworden wäre.

Wollte man es daran messen, wäre das Projekt natürlich ein totaler Fehlschlag. Was in allen Arbeiten — Comic, Brief, Interview, realistische, surrealistische oder narzisstische Illustration — hervorsticht, ist das Gepäck der Vergangenheit, das auf ihnen lastet.

Auf diesem Buch liegt tonnenschwer die Geschichte. Hinter jeder Sexszene scheint die »Kristallnacht« hervor; bei jedem Bad im Mittelmeer taucht Rosa Luxemburg aus den Wellen auf. Eine wirkliche Reise kann man, der allgemeinen Annahme zu Trotz, nur machen, wenn der Blick nach hinten gerichtet ist, nur innerhalb eines Kontextes.

Jeder andere Versuch ist artifiziell wie der Versuch, sich von seiner Biografie loszusagen, und genau das fügt sich in diesem Band so hervorragend zusammen — die Art und Weise, in der partikulare Erinnerungen sich mit kollektiven Erinnerungen mischen, ein Sommerroman mit dem Mauerfall.

In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen den Tel Avivern und den Berlinern augenfällig. Berlin hat eine lange, glorreiche Geschichte; die Geschichte Tel Avivs lässt sich in Jahrzehnten messen. Dem Alexanderplatz stellen wir den Atarim-Platz gegenüber; dem Lenin-Denkmal den Schornstein des Reading-Kraftwerks.

Sogar die Bauhausgebäude, auf die wir so stolz sind, haben wir aus Deutschland importiert. Dementsprechend ist die europäische Illustrations- und Comic-Tradition viel länger und gefestigter als die israelische. Und doch — würde man die Arbeiten durcheinander mischen, wäre es interessanterweise nicht immer offensichtlich, welche Künstler einen ausländischen Pass haben.

Die Figuren Erich Kästners fügen sich ins Tel Aviv des 21. Jahrhunderts ein; die klassische Zeichnung wird abgelöst von einer phosphoreszierenden Digitalillustration.

Dies lässt sich vielleicht damit erklären, dass die Illustratoren künstlerisch gereift sind in einer Welt, in der die Entfernung zwischen dem Ben-Gurion-Flughafen und Schönefeld kürzer ist denn je. Der Umstand, dass Tel Aviv heute Berlin viel näher liegt als Jerusalem, ermöglicht es dem Band, Klischees wie »Dialog« oder »kulturelle Begegnung« locker zu vermeiden.

Was natürlich nicht heißt, dass die Beitragenden mit jeder der beiden Aufgabenstellungen mit der gleicher Mühelosigkeit umgehen — in der Tat erkennt man leicht die kreative Anstrengung, die sie auf sich nehmen müssen, wenn sie das heimische Feld verlassen und frei von jeder persönlichen Erinnerung in die Gastgeberstadt kommen — doch besagt das, dass sie sehr wohl mit jenen visuellen und mentalen Mitteln ausgestattet sind, die sie brauchen, um Landkarten zu lesen, die andere gezeichnet haben.

Eine Zeichnung, im Gegensatz zu Text, bedarf keiner Übersetzung. Das erspart nicht nur den Einsatz von menschlichen Ressourcen, sondern reduziert auch Fehler auf ein Mindestmaß und schafft bessere Kommunikation.

Eine Illustration ist a priori etwas sehr Persönliches, Erfahrungsorientiertes, sie verzichtet auf den Anspruch, irgendeine »Realität« darstellen zu wollen, irgendeine objektive »Wahrheit«, auf die auch die Fotografie schon längst verzichtet hat — und in diesem Sinn hinterfragt ein aus Illustrationen und Comics bestehendes Reisebuch die Anmaßung, die Reiseführern prinzipiell zugrunde liegt.

Während diese versuchen, alles einzufangen, eine kollektive Erfahrung zu formulieren, eine Hierarchie der Prioritäten festzulegen, ein Maximum an Informationen für das größtmögliche Publikum und jeden Geschmack zu liefern (»Das klassische Europa in fünf Tagen«) — so tut dieser Band fast das Gegenteil.

Er reduziert die Stadt auf persönliche Momente. Der Brautsalon in der Ben-Jehuda-Straße 64 gehört nicht zum offiziellen Sightseeing-Plan der Stadt Tel Aviv, und die Ballettstunde in der Gipsstraße erscheint nicht im »Lonely Planet« unter der Überschrift »10 Pflichtadressen in Berlin«.

Wie Mark Twain vor 150 Jahren im Anschluss an seine Reise in den Nahen Osten schrieb: »Ich erhebe kaum Anspruch darauf, irgend jemandem zu zeigen, wie er interessante Dinge in Übersee betrachten solle — das tun andere Bücher, und daher ist es nicht erforderlich, selbst wenn ich dazu befugt wäre.«

Mit anderen Worten, wer Antiquitäten in Jaffa oder ein koscheres Restaurant in Berlin-Ost sucht, wird sie in diesem Buch nicht finden.

Er wird nur einige aufrichtige Versuche finden, das Substrat eines Ortes zu formulieren — nicht in praktischer, touristischer Hinsicht, sondern Versuche, die zusammengesetzt sind aus einer Aufeinanderfolge von Erinnerungen, versäumten Gelegenheiten, Selbstbilanzierungen, Bildern und Metaphern.

Wahre Dichtung könne nur von einem bestimmten Ort aus geschrieben werden, erklärt hier der Dichter Meir Wieseltier. Und auch Comics werden aus einem bestimmten Ort heraus geschrieben und gezeichnet.

In diesem Sinn hilft das Buch, mehr als dass es hilft, Berlin oder Tel Aviv kennenzulernen, acht in diesen Städten lebende Künstler kennenzulernen. Wer genauere Anleitungen sucht, wird sich wohl ein Navigationsgerät zulegen müssen.